Lineare Beschreibung_ Beurteilung von Trainierbarkeit, Rittigkeit und Biomechanik des Pferdes

Was bringt Sie mir als Reiter?

Wir alle wissen, dass der Körperbau eines Pferdes der Schlüssel zur Entfaltung seines Potenzials sein kann. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie sich bestimmte anatomische Merkmale tatsächlich in der Praxis auswirken?

Wir sehen ein Pferd und denken: „Warum bewegt sich mein Pferd, wie es sich bewegt?“ Aber wir verstehen nicht immer, was hinter diesen Beobachtungen steckt. „Was bestimmt die Bewegungsweise meines Pferdes, und wie kann ich es durch gezielte reiterliche Unterstützung optimal fördern?“

Was sind die Faktoren, die dazu führen, dass das eine Pferd, sich beim Angaloppieren ohne die Beeinflussung des Reiters, extrem leicht tut und seine Oberlinie nutzt, wobei ein anderes seinen Hals kurzfristig hoch „schmeissen“ muss um den Rücken zu stabilisieren und die Schulter frei zu bekommen?

Man kann in diesen Fragestellungen das lineare Beschreibungssystem der DQHA quasi als Leitfaden verwenden. Es kann als etwas, wie ein Dekodierung benutzt oder gelesen werden, um Pferde zu verstehen. Dieses System bietet wertvolle Einblicke, um sowohl Fachleuten als auch interessierten Pferdeliebhabern und auch vorallem Reitern ein tieferes Verständnis zu ermöglichen.

Über die Lineare Beschreibung, bei welcher der Körperbau in messbare, objektive Elemente aufschlüsselt wird, bewegt man sich weg von der subjektiven Meinung, wie z. B. „Oh, ich mag das Erscheinungsbild dieses Pferdes“, hin zu einer systematischeren, datengestützten Analyse. Indem man sich Dinge wie den Schulterwinkel, die Länge und Aufteilung des Rückens und die Winkelung der Kruppe ansieht. All diese kleinen Details können (in ihrer Kombination in der Funktionalität) einen großen Unterschied ausmachen.

Ganz bewusst, möchte ich in dieser Betrachtung das Interieur eines Pferdes außen vor lassen. Wir alle wissen, dass ein Pferd das „möchte“ viele anatomischen Handicaps überwinden kann, um aber eben von subjektiven Dingen abzusehen und es wissenschaftlicher anzugehen, und es möglichst auf anatomische Fakten herunter zu brechen und nicht zu verkomplizieren, lassen wir diesen Aspekt im Folgendem bewusst weg.

Als Pferdemenschen wissen wir, dass alle Pferde trotz ihrer äußerlichen Unterschiede, dieselbe Grundanatomie haben. Ein Dressurpferd, ein Westernpferd, ein Gangpferd und ein Springpferd sehen zwar auf den ersten Blick sehr unterschiedlich aus, haben aber alle die gleiche Anatomie, die gleiche Bewegung und die gleiche Pferdenatur. Aber es ist die Art und Weise, wie diese Teile sich zusammen fügen, die den wahren Unterschied ausmachen. Und dabei hilft uns dieses lineare Beschreibungssystem.

Nehmen wir einmal an, das ein gut gebautes, modernes Dressurpferd einem Hochleistungssportwagen gleichzusetzen ist, während ein Rückepferd/Zugpferd eher wie ein leistungsstarker Arbeitslaster/Unimog gebaut ist?

Beides sind erstaunliche Maschinen, aber sie sind für sehr unterschiedliche Zwecke konzipiert. Dieses (stark vereinfachte) Bild hilft vielleicht eine Idee zu bekommen.

Wie kann ich die Lineare Beschreibung nun lesen, um diese Unterschiede zu verstehen?

Das System verwendet spezifische Messungen und Beobachtungen, um ein Profil des Körperbaus des Pferdes zu erstellen. Dieses Profil kann dann helfen, die Eignung eines Pferdes für die bestimmten Sparten des Sports wie Westernreiten, Springreiten, Dressurreiten, Fahren usw. vorherzusagen. Ein Pferd mit einer langen, schrägen Schulter und einer kräftigen Hinterhand weißt alle Merkmale innerhalb ihrer Rassestandards auf um ein guter Athlet im den Sparten des Westernsportes zu sein, wo es diese Weite und diesen Umfang braucht.

Eine lange, schrägere Schulter ermöglicht es dem Pferd, sein Vorderbein bei jedem Schritt/Tritt und Sprung weiter zu strecken, wodurch ein längerer, gleichmäßigerer Stride (Raumgriff) entsteht, der z.B.. für das Reiningpferd unerlässlich ist um beispielsweise bei einem tiefen und langen Stop sich nicht mit den Hinterbeinen in die Ballen der Vorderbeine zu greifen oder auch einen schnellen, raumgreifenden Galopp auf dem Zirkel erreichen zu können.

Ein Pferd mit einem kürzeren, kompakteren Körperbau und einer schnellen, wendigen Hinterhand eignet sich besonders gut für das Cutting, bei dem es scharfe Wendungen und plötzliche Stopps machen muss.

Beides gute Athleten im selben Rassestandart.

Ein Pferd mit einer eher steileren Schulter ist z.B. im Springsport nicht unbedingt unerwünscht, da es dem Pferd das schnellere anziehen der Vorderbeine über dem Sprung ermöglicht.

Es geht also darum, die körperlichen Eigenschaften des Pferdes an die Anforderungen der jeweiligen Sparte anzupassen. Und das ist der Punkt, an dem dieses Wissen so wichtig  wird. Es ermöglicht uns, fundiertere Entscheidungen über die Ausbildung und die Turnierkarriere eines Pferdes zu treffen. Eine Möglichkeit, die einzelnen Puzzleteile und das daraus entstehende große Ganze zu sehen.

Nehmen wir einmal die Hinterhand, die gerne auch salopp als Motor des Pferdes bezeichnet wird. Die Hinterhand ist der Ort, an dem Kraft und Vortrieb erzeugt werden. Und um bei dem Beispiel der Reining zu bleiben, für athletische Disziplinen wie die Reining, braucht man diese explosive Kraft.

Der Winkel der Hüfte, die Anbindung über die Lende, all das sind Schlüsselfaktoren dafür, wie effektiv ein Pferd vorwärts gehen kann. Die Lineare Beschreibung schenkt den Winkeln und Proportionen in Selektionsmerkmal Rahmen und Gebäude in mehreren Punkten die zu Beschreiben sind, große Aufmerksamkeit, und das aus gutem Grund.

Es geht also nicht nur darum, große Muskeln zu haben. Es geht darum, wie diese Muskeln strukturiert sind und wie sie zusammenarbeiten, um Bewegung zu erzeugen. Denn die Gelenkwinkelungen beeinflussen die Hebelverhältnisse, während die an den Knochen anhaftenden Muskeln durch ihre Entwicklung und Stärke die Bewegungskraft und Stabilität der Gelenke bestimmen.

Und hier kommt das Konzept der funktionellen Bewegung ins Spiel. Gutes Reiten und Training kann und sollte eine biomechanisch korrekte Bewegung fördern.

Funktionelle Bewegung bedeutet also, dass sich das Pferd auf eine Weise bewegt, die gesund und nachhaltig ist und die Belastung oder das Verletzungsrisiko minimiert.

Funktionelle Bewegung fördert Kraft und Flexibilität und somit eine Minimierung des Verletzungsrisikos. Es geht darum, mit der natürlichen Biomechanik des Pferdes zu arbeiten, nicht gegen sie.

 

Wie kann also das lineare Beschreibungssystem mir als Reiter in der Praxis helfen?

Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, um zu sehen, wie diese scheinbar unbedeutenden Details im Körperbau einen großen Einfluss auf die Bewegung eines Pferdes und seine Eignung für bestimmte Sparten haben können.

Stellen Sie sich vor, Sie begutachten ein Pferd, das Sie kaufen möchten, und Ihnen fällt auf, dass es eine sehr steile Schulter hat. Was könnte Ihnen das über seine zu erwartende potenzielle Bewegungsqualität sagen?

Basierend auf dem, was wir über schräge und steile Schultern eben gelernt haben, lässt sich vermuten, dass eine steile Schulter die Schrittlänge des Pferdes einschränken und es ihm erschweren könnte, sich wirklich zu versammeln und zu strecken. In etwa so, als würde man versuchen, mit geschlossenen Ellbogen nach etwas zu greifen. Man kann einfach nicht den vollen Bewegungsumfang erreichen.

Und das ist genau die Art von Einblick, die dieses System bietet.

Es hilft einem, diese feinen Nuancen im Körperbau zu interpretieren und zu verstehen, wie man die zu erwartende Leistung eines Pferdes beeinflussen kann. Es geht darum zu verstehen, wie sich diese Merkmale in reale Bewegungsmuster umsetzen lassen.

Wenn ich mir also ein Pferd für den Westernsport, sagen wir für die Reining ansehe, würde ich nach einer schrägeren Schulter, einem nicht zu langem, aber auch nicht zu kurzem Rücken für fließende Bewegungen, genügend Bruststiefe mit freien Ellenbogen um ein ausreichendes Kreuzen der Vorderbeine im Spin zu gewährleisten, und natürlich nach einer kräftigen und gut gewinkeltem Hinterhand suchen. Eine gut gewinkelte Hinterhand ermöglicht eine größere Beugung in den beteiligten Gelenken (Hüft-, Knie- und Sprunggelenk), was sich in einem kraftvolleren Abstoß bei jedem Schritt/Tritt und Sprung niederschlägt. Es ist, als hätte man eine längeren Hebel.

Je besser sich die HH (ähnlich einer Feder), beugen/komprimieren kann, desto mehr Kraft und somit Schub kann das Pferd in selbiger erzeugen. Eine schräge Kruppe wird oft mit einer größeren Athletik in Verbindung gebracht, eine sehr stark abfallende Kruppe wiederum begünstigt große Zugleistung in langsamem Tempo, z.B. wie bei einem Kaltblüter, da eine stärker abfallende Kruppe wie eine Rampe wirkt und dem Pferd mehr Hebelwirkung und Kraft gibt, um sich nach oben abzustoßen.

Uns interessiert also die Kombination der vorliegenden Merkmale im Hinblick auf Athletik und der Eignung den Reiter tragen zu können, weitestgehend auch als „Talent“ bezeichnet und im weiteren auch innerhalb den von uns gestellten Ansprüche zur Nutzung des Quarter Horses, also unseren gewünschten Rassestandards.

Die Beschreibung kann uns also auch eine Art Fahrplan bieten, der uns hilft, fundierte Entscheidungen über die Trainings- und Turnierkarriere eines Pferdes zu treffen. Nicht jedes Pferd ist für eine große Sportkarriere geeignet, und das ist auch in Ordnung.

Wichtig ist, dass wir ihren Körperbau verstehen, ihre Stärken und Schwächen erkennen und jedem Pferd helfen, sein volles Potenzial auf gesunde und nachhaltige Weise auszuschöpfen. Und das bringt uns zurück zu dem Konzept der funktionellen Bewegung. Bei gutem Reiten und Training geht es nicht nur um die Maximierung der Leistung. Es geht auch darum, das allgemeine Wohlbefinden des Pferdes zu gewährleisten.

Es geht darum, dem Pferd die bestmögliche Chance auf ein langes, gesundes und aktives Leben zu geben. Es geht um die Erkenntnis, dass die sportliche Karriere eines Pferdes begrenzt ist, sein Wohlbefinden aber auch noch lange nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Turniersport wichtig ist.

Und die lineare Beschreibung gibt uns die Mittel an die Hand, um nicht nur die Schönheit oder Sportlichkeit eines Pferdes zu würdigen, sondern wirklich zu verstehen, wie sein Körper funktioniert. Ein besseres Verständnis des Körperbaus eines Pferdes kann uns dabei helfen, eine ausgewogeneres und effektiveres Training zu entwickeln.

Es geht darum, unser Training an das individuelle Pferd anzupassen. Durch die Analyse des Körperbaus Ihres Pferdes können Sie z.B. potenzielle Bereiche mit Steifheit oder Schwäche erkennen und Ihr Training entsprechend anpassen.

Anstatt also nur zu denken, dass sich mein Pferd steif anfühlt, kann ich mir seinen Körperbau ansehen und sagen: Okay, dieses Pferd hat die Tendenz, vermehrt Austritt statt Untertritt zu zeigen, also wird es vielleicht zu Verspannungen in den Hüftbeugern neigen, die ich in meinem Training berücksichtigen muss.

Es ist, als hätte man einen individuellen Physiotherapieplan für seinen Körper, aber anstatt nur die Symptome zu behandeln, geht man die zugrunde liegenden Ursachen an.

Wir können dieses System also nutzen, um bewusster zu reiten und unseren Pferden zu helfen, sich freier und bequemer zu bewegen. Es geht darum, mit dem Pferd zu arbeiten und seine Schwächen zu schwächen und seine Stärken zu stärken. Anstatt also eine Einheitsgröße für alle zu verwenden, könnten wir unsere Trainingsprogramme an die individuellen Bedürfnisse jedes Pferdes anpassen.

 

Wenn Sie ein Pferd mit einem längeren Rücken haben, das vielleicht etwas schwächer im Mittelstück ist, (tiefster Punkt des Widerrists bis letzter Brustwirbel, dieser ist zu lokalisieren durch das mitgehen des letzten Rippenbogens bis zum Querfortsatz des letzten Brustwirbels, von hier aus mit dem Finger geradeaus hoch) können Sie sich mehr auf Übungen konzentrieren, die die Rumpfkraft und Stabilität stärken.

Übungen, die die Bauchmuskeln beanspruchen und dem Pferd helfen, seinen Rücken zu heben und zu stützen, wie z. B. die Arbeit im Gelände an Steigungen,  oder aber auch Stangenarbeit und Cavaletti-Übungen können sehr hilfreich sein.

Ein Pferd mit einem von Natur aus kurzen, kräftigen Rücken könnte beispielsweise von Übungen profitieren, die die seitliche Biegung und die Rotations-Aufwärtsbewegung des Rumpfes fördern. Denken Sie zum Beispiel an Schulterherein, Konterschulterherein, Travers und Renvers, in der für dieses Pferd richtigen Abstellung, sich seitlich zu biegen und aufzudehnen, sowie zu mobilisieren.

Diese Bewegungen tragen zur Mobilisierung, und Dehnung bei, was für jedes Pferd wichtig ist, besonders aber für ein Pferd mit einem kurzen Rücken. Allerdings immer in dem passenden Rahmen zu den vorliegenden körperlichen Merkmalen.

Die genannten Übungen bei einem kurzen Rücken verlangen, nur sehr wenig seitliche Abstellung, ein Pferd mit einem längeren Rücken braucht im Verhältnis etwas mehr seitliche Abstellung um denselben positiven Effekt zu bekommen.

Das „Wie?“ ist also enorm wichtig in der Frage des richtigen Trainings und wird von den vorliegenden Merkmalen jedes einzelnen Pferdes vorgegeben. Denn diese Merkmale können sehr wohl selbst innerhalb einer Rasse, starken Unterschieden in der Ausprägung unterlegen sein.

Die Anatomie des Pferdes kann als eine Art Schlüssel gesehen werden, um die Biomechanik eines Sportlers verstehen, um wiederum sein Trainingsprogramm auf die von ihm erbringbare Spitzenleistungen zuzuschneiden.

Auch wenn Sie nicht an Turnieren teilnehmen, kann dieses Wissen Ihnen helfen, Ihr Pferd gesund zu erhalten. Gutes Reiten und Training sowie funktionelle Bewegung können dazu beitragen, dass ein Pferd gesund, aktiv und ein langes Leben lang reitbar bleibt. Es kann Hilfestellung dazu geben, frühzeitig zu erkennen, wenn ev. Blockaden im Pferd vorliegen, die bei Nichtbeachtung (und hier soll nicht gesagt werden das dies immer einfach sei zu erkennen, denn Pferde sind naturbedingt, Meister der Kompensation) immer weitere Kreise im Pferdekörper ziehen und dann an ganz anderer Stelle als Problem auftauchen.

Das lineare Beschreibungssystem ist also so viel mehr als nur ein Werkzeug für Züchter oder Richter. Es ist ein wertvolles Hilfsmittel für jeden, der sein Verständnis von Pferden und ihren Bewegungen vertiefen möchte, egal ob es sich um Turnierreiter, Freizeitreiter oder einfach nur um leidenschaftliche Pferdeliebhaber handelt. Es ist eine Einladung, Pferde mit neuen Augen zu sehen und die Schönheit und Komplexität ihrer Biomechanik zu schätzen.

Und sich daran zu erinnern, dass es bei guter Horsemanship um so viel mehr geht als nur um Reiten oder Training. Es geht darum, das Pferd als Athleten und Partner zu verstehen und zu respektieren.  Es geht darum, mit dem Körper des Pferdes zu arbeiten, nicht gegen ihn. Und letztendlich geht es darum, ihr Wohlbefinden zu fördern, damit sie ein langes, gesundes und erfülltes Leben genießen können.

 

Text: Nina Obermüller